Wir trafen den 42-jährigen Italiener kurz vor der Bekanntgabe seiner Auszeichnung, schauten ihm beim Entwickeln eines neuen Gerichts über die Schulter, probierten seine Kreationen und sprachen mit ihm über seine Kochkunst und die Idee, die ihn antreibt.
So gut schmeckt Bio: Paolo Casanova wurde von Gault Millau als «Green Chef of the Year» ausgezeichnet. Der Chefkoch der «Stüva Colani» in Madulain GR trägt ausserdem einen Michelin Stern und 17 Punkte Gault Millau. Gemeinsam mit seiner Frau Stella Guarneri führt er das Bistro und Restaurant «Stüva Colani». Seit diesem Herbst trägt er auch einen Stern der Bio Cuisine.
Tapfer stemmt sich die Sonne gegen den nahenden Herbst. Sie vertreibt die letzten Wolkenreste aus dem Oberengadin und verspricht beste Bedingungen für die Jäger, die aus dem Bernina Express steigen und auf die Pirsch gehen. Einige von ihnen werden ihren Fang auch in der Stüva Colani abliefern.
Vor einer Woche erst hat Paolo Casanova einen ganzen Hirsch zerlegt. Jetzt entwickelt er Gerichte für seine neue Herbstkarte. Zum Beispiel: Ein Stück Hirsch-Filet in einem Nest aus Flechten frittiert, serviert mit Wildpilzen und einem Preiselbeer-Coulis. Man spürt den Herbst. Und schmeckt ihn.
Bio Suisse: Was bedeutet für Sie gutes Essen?
Paolo Casanova: Ein gutes Essen lässt den Alltag vergessen und gut schlafen.
Und warum setzen Sie dafür auf Bio?
Bio ist ein wichtiger Bestandteil unserer Arbeit. Deshalb setzen wir auf die Bio Cuisine. Die Qualität der eingesetzten Produkte ist für unsere Küche zentral. Ich kenne alle meine Lieferanten und möchte die kleinen Bio-Höfe hier im Engadin unterstützen.
Wie kommt es, dass Sie in ihren Gerichten so viele wilde Zutaten einsetzen?
Es sind originale Produkte. Frischer und natürlicher geht es nicht. Das Kochen ist meine Interpretation des Moments. So kann ich meine Wahrnehmungen in Gerichte umsetzen. Als ich 2016 im Engadin angekommen bin, fühlte ich mich wie in einem buddhistischen Kloster im Himalaya. Die Berge bedeuten für mich Fokus und Reduktion. Das zeigt sich auch in meiner Küche. Wenn ich rausgehe und nach neuen Zutaten suche, fühle ich mich wie Indiana Jones auf Schatzsuche. Heute arbeiten wir mit 80 Kräutern, 20 unterschiedlichen Pilzen, und als nächstes wollen wir uns den Baumrinden widmen.
Die Natur auf dem Teller
Casanova verarbeitet Tannensprossen, Blumen, wildes Süssholz und Wildspinat zu Tortellini, Ravioli, Knödel, Suppen, nutzt sie zum Würzen von Saucen und Desserts. Auf seinen Streifzügen findet er neben Zutaten und Inspirationen für neue Gerichte auch Zeit zum Abschalten und die Batterien aufzuladen. Und er kommt in Kontakt mit den Bio-Bauern in der Nachbarschaft. So kommt es, dass er zum Beispiel ein Aar Futter-Hanf kauft und die Blätter und Blüten haltbar macht und verarbeitet – zum Beispiel zu einem Hanf-Glace.
Erst am Tag zuvor wurde ein halbes Schwein geliefert. Für ihn ist es selbstverständlich, das ganze Tier zu verarbeiten. Deshalb macht er nicht nur den Schinken selbst, sondern nutzt auch den Kopf des Tiers. Zunge und Bäckchen setzt er als Fleischbestandteile auf die Karte, aus dem Fleisch des Kopfs macht er mit seinem Team eine Wurst. Casanova weiss genau: Für seinen Erfolg ist er auf seine Küchen-Brigade angewiesen.
Wenn ich rausgehe und nach neuen Zutaten suche, fühle ich mich wie Indiana Jones auf Schatzsuche
Paolo Casanova, Green Chef of the Year 2023
Der Staff ist Teil der Familie. Sie sind alles, ohne sie könnte ich nicht arbeiten. Wenn ich eine Idee für ein neues Gericht habe, helfen sie mir, diese in Gerichte umzusetzen. Es sind absolute Profis, die ihr Handwerk beherrschen. Das Restaurant ist mehr als Zutaten. Es ist auch das Personal und das Know-how, das es braucht, um aus den Zutaten ein gutes Essen zu kochen.
Wenn man Ihre Gerichte anschaut, tragen sie oft einen sehr sprechenden Titel, die auf ein klares Konzept schliessen lassen. Was treibt Sie an, auf diese Weise zu kochen?
Ich stamme aus einer Gastronomen-Familie. Mein Berufsweg schien klar vorgezeichnet. Ich habe mich zunächst anders entschieden und zuerst als Grafiker gearbeitet. Eines Tages sagte mir mein Vater dann aber, ich solle doch die Hotelfachschule besuchen. Hier habe ich gemerkt, dass ich mich auch beim Kochen kreativ ausdrücken kann. Mit 26 wurde ich Chefkoch. Seither hat sich meine Art zu Kochen immer weiterentwickelt. Und heute, mit 42 Jahren, habe ich schlicht mehr Dinge zu erzählen.
Ihre Gerichte sind keinem Stil zuzuordnen. Die Küche ist weder italienisch, noch französisch und auch nicht klassisch alpin. Wie bezeichnen Sie Ihren Kochstil?
Es ist ein sehr persönlicher Stil. Klar wurde ich inspiriert von Massimo Bottura, bei dem ich gearbeitet habe (Anm. italienischer Koch, die Osteria Francescana war lange Zeit das beste Restaurant der Welt) und Renè Redzepi, auch wenn ich noch nie für ihn gearbeitet habe (Anm. dänischer Koch, sein Restaurant Noma hat die nordische Küche neu definiert und war ebenfalls mehrere Jahre bestes Restaurant). Ohne sie wäre meine Küche nicht, was sie heute ist. Meine Küche ist meine Art, die Dinge auszudrücken, die mich beschäftigen. Zum Beispiel die Verschmutzung und Überfischung der Meere. Deshalb verzichte ich in meiner Küche auf Thunfisch und Schwertfisch. Stattdessen setze ich auf Süsswasserfische. Eines meiner Gerichte heisst auch «Un Mare di Insostenibilità» und setzt dieses Thema kulinarisch um.