250 Arten von Lebewesen wohnen hier

31. Mai 2020


Er weiss punktgenau, wo in seinen Reben die seltene Rankenblatterbse wächst, wo der wilde Hopfen rankt oder die Wiesenschaumzikade ihre Eier ablegt. Wer im Frühsommer mit Biowinzer Bruno Martin in den Weinbergen über Ligerz unterwegs ist, der staunt, schult sein Auge und staunt nur immer weiter.

Noch werden die Tage länger. Mit ihrem saftigen, frischen Grün stehen die Rebstöcke in Reih und Glied. Hinter den feinen Netzen tut sich in dieser Jahreszeit gerade ganz viel. Schon haben sich an den rispigen Blütenständen winzige Knötchen, die späteren Traubenbeeren, gebildet. In den Hängen rankt und wächst alles schnell und wie wild dem Licht entgegen. Unten funkelt blau der See, die Biese jagt Segelschiffe übers Wasser. «Grün und Blau, all diese kräftigen Farben, wie gut sie uns jetzt in der Natur tun, in dieser Zeit, wo so viele Menschen zuhause bleiben mussten», sagt Bruno Martin.



Mit einem leichten Seufzer blickt er in das atemberaubende Panorama. In diesem Frühjahr nahmen die Arbeiten hier draussen wie gewohnt ihren Lauf. Doch wegen der Covid-19-Massnahmen war für ihn keine Rede davon, interessierten Gruppen die für ungeschulte Augen verborgene Vielfalt in seinen Reben zu zeigen. Seit Jahrzehnten bewirtschaftet sie Bruno Martin mit Sorgfalt und mit Respekt vor den natürlichen Kreisläufen des Lebens.

Marienkäfer und Milben wie noch nie

Unser Weg führt über eine alte Treppe aus Jurasteinen hinauf aus dem Dorf Richtung Kirche. Das spätgotische Wahrzeichen des Winzerdorfes steht am «Pilgerweg» zwischen Ligerz und Twann. Der Name des Weges weise historischen Schriften nach darauf hin, dass er Pilgerern aus dem Elsass und dem Rheinland nach Santiago de Compostela gedient haben könnte. Bruno Martin zeigt auf Kälberkopf, Labkraut und Schöllkraut entlang unserem Pfad. Etwas oberhalb, in den Heckenrosen, brummen und summen die Bienen. Eine Eidechse, zwei, dann eine dritte verschwinden lautlos in den Ritzen der Trockenmauer.


«Hier habe ich gestern eine Schlingnatter überrascht, dort kam sie herein, glitt den Steinen entlang, und hier, in diesem Loch, hat sie sich versteckt.» Wir steigen weiter, an Stauden, Hecken, buschigem Efeu und einem grossen Asthaufen vorbei bergwärts. «Hier haben wir eine schöne Ansammlung von Ziegenbartexemplaren», sagt der Winzer, «ihre gelben Blüten sind nur morgens geöffnet, und da, der Samenstand der verblühten Pflanze, ist der nicht wunderbar?» Über das Gemäuer hüpfen kleine Krebsspinnen in die Ritzen. Das Auge nimmt sie erst wahr, wenn sie schon fast darin verschwunden sind. Die prächtigen Exemplare der Bocks-Riemenzungen in den Wiesenstreifen zwischen den Reben sind bereits am Verblühen. Bruno Martin behält stets ein Auge für seine Kulturen, richtet da eine Rebenranke zurecht, entfernt dort etwas Abgeknicktes. «Da, zwei Marienkäfer, noch einer… So viele Milben und Marienkäfer wie dieses Jahr habe ich hier in meinem ganzen Leben nicht gesehen», sagt er. Auch die Blütenpollen hätten zugenommen, ebenso wie die Trockenheit...

Alle 50 Meter ein Strukturelement

Der Winzer schickt den Blick hinauf zum Rand des Jurawalds: «In diesem Frühling haben die Rottannen mit ihren frischen Zapfen flammend gefunkelt – jetzt weiss ich wirklich, warum sie so heissen.» Weiter geht’s, entlang den Reben, gesäumt von kleinen Parzellen mit extensiven Wiesen, und immer wieder vorbei an Stauden, Hecken, etwas Totholz, einem vereinzelten Hochstamm-Obstbaum. Bruno Martin hat sich zum Ziel gesetzt, auf seinem Betrieb alle 50 Meter mindestens ein solches Strukturelement anzubieten.



«Zur Förderung der Lebenskreisläufe», wie er betont. Dies sei Teil bewusster Massnahmen, die Unterschlupfmöglichkeiten und Nahrung bieten für Wiesel, Vögel, Raupen, Schmetterlinge, Insekten. Der Besucherin bieten sie einen unvergesslichen Anschauungsunterricht in Sachen Biodiversität. «250 Arten von Lebewesen wohnen hier, und allein von der Art Marienkäfer hat es schon sechs bis acht Sorten», gibt er zu bedenken, um sie gleich alle aufzuzählen und fortzufahren: «Doch das ist nur das, was man sieht, denn in einem schonend bearbeiteten, fruchtbaren Boden ohne chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel geht’s mit unzähligen Kleinstlebewesen weiter.» Apropos Boden: Die begrünten Fahrgassen zwischen den Reben mäht Bruno Martin abwechslungsweise, damit immer Nahrung bleibt für Grashüpfer, Grillen, Käfer, Raupen, Schmetterlinge: «Die Gräser und Blüten will ich für diese Nützlinge so lange wie möglich blühen lassen – wenn schon mähen, dann nur 8 bis 10 cm ab Boden, um die Blütenrosetten nicht wegzuschneiden.» Direkt um die Rebstöcke herum entfernt er das Gras von Hand. So könne der Rebstock schneller abtrocknen und dem Mehltaubefall durch zu viel Feuchtigkeit vorgebeugt werden.

Gelbe Flechten und ihr Zeichen

Und was macht der Biowinzer sonst anders als die Kollegen im konventionellen Rebbau? «Sie haben bis Ende Mai schon drei- bis viermal gespritzt», lautet die Antwort. «Gegen Mitte Mai behandle ich meine Kulturen nur einmal: mit Netzschwefel und Gesteinsmehl, Schachtelhalm und Kräuterextrakt. «Gegen Anfang Juni werde ich meine Europäerreben je nach Krankheitsdruck mit Netzschwefel und den im Biolandbau erlaubten Mengen an Kupfer spritzen.» Die pilzwiderstandsfähigen Sorten, die PIWIS, braucht Bruno Martin nicht zu spritzen. Sie machen heute 60% seiner Kulturen aus. Doch nicht nur ihrer Robustheit wegen, auch der seit Jahrzehnten währenden Sorge um ein gutes Gleichgewicht zwischen Nützlingen und Schädlingen ist zu verdanken, dass bei diesen Sorten ganz aufs Spritzen verzichtet werden kann.

Hier wurde schon lange nicht mehr gespritzt

Die Blicke auf den Boden geheftet, gehen wir weiter Richtung Twann. An den alten Rebstöcken fallen gelbe Flechten auf. Bruno Martin klärt auf: «Das ist ein Zeichen dafür, dass hier kein Kupfer gespritzt wird». Wir erreichen die Stelle seines Ziels. Hier wächst die Rankenblatterbse. Glück gehabt: Sie blüht gerade wunderbar. «Das ist der einzige Standort am ganzen Bielersee, wo sie noch zu finden ist», sagt Bruno Martin, sichtlich stolz, und steckt sich etwas von dem zarten Rüeblikraut in den Mund, das grad daneben aus dem Boden schaut.

Fortsetzung folgt …


Bruno Martin in Ligerz BE tut viel für die Biodiversität – als Winzer auf seinem Betrieb und seit Herbst 2019 als Gewählter der Grünen im Berner Kantonsparlament. Was und wie? Wir wollen es genauer wissen. Wir werden diesen erfahrenen Bioweinpionier erneut besuchen und ihn zu verschiedenen Jahreszeiten in seinem Element begleiten. Dieser Beitrag ist der 2. Teil unserer Fortsetzungsgeschichte in vier Folgen über ein Zusammenspiel von Mensch, Fauna und Flora, das oberhalb des Bielersees seit über 25 Jahren währt. Den 1. Teil verpasst? Hier geht’s zum Interview.

Text und Fotos: Sabine Lubow

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