Dr. Florian Leiber leitet das Departement Nutztierwissenschaften am FiBL seit 2016 und gibt Einblicke in die Thematik der Nutztierhaltung.
Tierethik ist ein brisantes Thema. In der biologischen Landwirtschaft ist Tierwohl ein wichtiges Anliegen und ein Grund, weshalb sich viele Konsumenten für «Bio» entscheiden. Dennoch sprechen wir allgemein von «Nutztieren». Wer gibt uns das Recht, Tiere zu nutzen und welche Standards schulden wir den Tieren?
Dr. Leiber, welche Bedeutung wird dem Thema Tierwohl in der Landwirtschaft gegeben?
Jedes Land hat etwas andere Richtlinien. Generell ist das Thema Tierwohl im Bio-Anbau stärker verankert als bei der konventionellen Landwirtschaft. Man muss dennoch wissen: Nicht alle Labels sind gleichwertig. Wenn man in Europa schaut, gibt es zum Beispiel EU-Bio. Hier gibt es verschiedene Punkte fürs Tierwohl, von denen sich die Schweiz mit den strengeren Richtlinien von Bio Suisse abhebt. Dies beinhaltet zum Beispiel strengere Richtlinien beginnend vom Stallbau über mehr Auslauffläche pro Tier bis hin zur Anzahl der Auslauftage oder der Gruppengrösse bei Geflügel.
Es gibt auch weitere Verbandsrichtlinien, etwa Demeter, wo das Tierwohl z.B. mit den behornten Kühen stark gelebt wird. Generell nimmt die Schweiz im Bio-Landbau eine grosse Verantwortung für das Tierwohl wahr.
Der Begriff «Nutztiere» beinhaltet, dass Menschen einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Tiere erhalten. Ist das nicht unfair?
Das Tier kann nicht teilnehmen an dieser Diskussion, wir definieren die Bedingungen für das Tier und tragen die Verantwortung. Unfair wird es dann, wenn das Tier den wirtschaftlichen Mehrwert durch immer mehr Leistung erbringen muss und wir als Menschen nicht bereit sind, unseren Teil durch mehr Engagement und höhere Preise beizutragen. Eine schnellere Mast, mehr Milch, mehr Eier, mehr Fleisch: Ein landwirtschaftlicher Betrieb, der mit Tieren Lebensmittel erzeugt, muss davon leben können. Aber die Leistungen werden mit den Tieren zusammen erbracht. Der Markt trägt damit ebenso eine Verantwortung für die Tiere wie für die bäuerlichen Familien. Der Kunde muss sich fragen, wie viel Leistung er dem Bauern und damit dem Tier abverlangen will. Auch die Landwirtin oder der Landwirt muss sich individuell die Frage stellen: Wie viel kann, will oder muss ich meinen Tieren zumuten, damit ich davon leben kann, und welche Verantwortung trage ich, im Sinne meiner Tiere, am Markt für höhere Preise zu kämpfen?
Was halten Sie von Leistungsrassen?
Hochleistungsrassen haben sich mit zunehmenden Möglichkeiten der Zucht entwickelt, wie auch Hybridrassen. Pro Tier soll ein höherer Ertrag erwirtschaftet werden. Was man wissen muss: Diese Tiere bringen auch viele Herausforderungen mit sich: Es sind erhebliche gesundheitliche Probleme mit Hochleistungstieren verbunden und die «Nutzungsdauer» der Tiere ist begrenzt. Ein Problem ist, dass die Hochleistungstiere oft nicht in die natürlichen Produktionsbedingungen passen, die es im Grasland-Standort Schweiz gibt. Damit kommt die Frage auf nach einer standortangepassten Zucht: Wie hoch kann die Produktivität unter den Bedingungen des jeweiligen Standorts sein? Das sind dann eher angepasste Rassen, die robuster sind als Hochleistungsrassen – deswegen setzen Bio-Betriebe weniger auf Hochleistungstiere. Pro Kuh gibt es dann zwar eine geringere Leistung, dafür aber mit geringerem Input wie weniger Medikamenteneinsatz oder weniger Kraftfuttermittel wie Soja, das ggf. importiert werden muss.
Was bedeutet tierfreundliche Haltung?
Tierfreundliche Haltung beschäftigt sich mit mehreren Ebenen. Wenn man darauf schaut, wie die Tiere natürlicherweise leben würden, was z.B. Herde, Paarung und Aufzucht für ein Tier bedeuten, dann ist klar, dass in der Landwirtschaft viele ursprüngliche Verhaltensweisen weitgehend unterbunden werden. Auch das natürliche Verhalten im Raum wie Laufen über weite Strecken und vielfältige Nahrungsaufnahme werden meistens nicht ermöglicht.
- Inwieweit kann ich in der Landwirtschaft dem Tier seine artentsprechenden Verhaltensweisen ermöglichen?
- Wie viel Stallfläche, wie viele Tage Weidegang, wie viel Auslauf, aber auch welche Sozialstrukturen und welche Beschäftigung hat das Tier?
Diese Fragen helfen bei der tiergerechten Haltung. Meiner Meinung nach haben wir in der Schweiz mit der Knospe sehr tierfreundliche und umfangreiche Richtlinien. Trotzdem müssen wir uns immer wieder fragen: Sind wir damit wirklich nah beim Tier? Jeder Betrieb muss für sich individuelle Lösungen und Kompromisse finden. Auch das Thema Tötung bzw. Schlachtung gehört zum Thema Tierwohl. Hier entwickeln Bio-Betriebe bereits Ansätze, um das Tierwohl zu steigern und den stressigen Transport ins Schlachthaus zu vermeiden: Hof- bzw. Weidetötung ist in der Schweiz neu möglich. Doch auch im Bio-Sektor gibt es lange Transporte zu Schlachthöfen, was für die Tiere enorm belastend ist. Grundsätzlich sollten wir uns in Bezug auf das Tierwohl nie schnell zufriedengeben, sondern immer aufs Neue hinschauen und Fragen stellen.
Was schulden wir Schwein, Huhn und Co.?
Wir schulden «den Nutztieren», dass sie ihre artentsprechenden Erfahrungen so weit wie möglich machen können. In der Landwirtschaft leben Tiere unter fremdbestimmten Bedingungen. Sie können sich ihre Erfahrungen nicht selber suchen. Wenn wir aber z.B. beim Schwein Weidegang ermöglichen, einen Ort anbieten, wo sie wühlen und sich suhlen können, eine Vielfalt an Auslauf und Beschäftigung haben und ein abwechslungsreiches Futterangebot, dann können die Tiere ihren natürlichen Verhaltensweisen auch mit den Einschränkungen eines landwirtschaftlichen Betriebs nachkommen.
Natürliche Familienstrukturen sind in der Landwirtschaft nach wie vor schwierig. Dabei geht es u.a. um das Verhältnis Jung- und Elterntiere. Markt- und Züchtungsgesetzmässigkeiten haben es verboten, dass Kälber am Euter der Mutterkuh säugen, wenn gleichzeitig die Milch verkauft werden soll. Durch die muttergebundene Rinderaufzucht wird dies neu ermöglicht. Generell werden aber meistens Kälber und Kühe nach der Geburt getrennt und zugunsten besserer Milchleistung gesondert aufgezogen. Aber vom Tier aus gedacht, ist das ein brutaler Eingriff. Man könnte sagen, wir schulden dem Tier diese Möglichkeit der Aufzucht seiner Nachkommen. Das ist ein grosses Dilemma, am allermeisten beim Geflügel.
Die Frage zur Ethik: Haben wir das Recht, ein Tier zu einem «Nutztier» zu machen?
Nutzen beinhaltet eine Sache – das heisst, der Begriff Nutztier beinhaltet Verdinglichung. Es ist schwierig zu begründen, woher wir dieses Recht nehmen, ein beseeltes Lebewesen zu nutzen. Die Landwirte entscheiden: Wie viel Nutzen kann das Tier mir geben, ohne dass meiner Meinung nach Schaden für das Tier entsteht. Ich habe die Verantwortung schon angesprochen, die Tiere gut zu beobachten. Aber es ist auch eine innere Frage: Wie weit kann ich mit meinen Tieren kooperieren, anstatt sie einseitig als Nutzlebewesen, also als Betriebsmittel zu betrachten.
In diesem Gedanken liegt für mich ein revolutionäres Potential: Wie kann das Tier auf dem Betrieb vom Inventar zum Partner werden? Nicht im Sinne einer Vermenschlichung! Aber im Sinne eines fairen Deals, von dem beide Seiten – Mensch und Tier – auch etwas haben.
Wer trägt letztendlich Verantwortung für das Tierwohl?
Die Verantwortung beginnt bei allen Teilnehmern am Markt: den Landwirten, der Fleischverarbeitung, dem Einzelhandel und den Konsumenten. Jede und jeder einzelne in der Kette ist beteiligt. Der Konsum ist ein Indikator, was stärker produziert werden soll, aber nicht der alleinige Faktor, der dies reguliert.
Vielleicht wären Kundinnen und Kunden auch bereit, einen höheren Preis für ein kleineres Ei zu zahlen, wenn das Tier bessere Lebensbedingen hatte. Dies auszuhandeln, ist aber am Markt gar nicht so leicht. Bei Schweinefleisch zum Beispiel gibt es klare Normen, wie es aussehen muss. Diese Normen führen zur Preisbildung. Das Schwein muss eine bestimmte Gewichtsklasse und Zusammensetzung des Fettes haben. Wer als Landwirt davon abweicht, muss mit Preiseinbussen rechnen. Solche Normierungen hindern Bio-Schweinefleischproduzenten daran, vielfältiger mit der Ernährung der Tiere umzugehen. Aber ob die Kundinnen und Kunden wirklich wünschen, dass das Schweinefleisch genau so aussieht oder genau diesen Fettanteil hat, ist eher unklar. Hier bestehen gewaltige Informationsdefizite in beide Richtungen, und dabei trägt meines Erachtens der Lebensmittelhandel eine grosse Verantwortung, welcher er - wenn überhaupt - nur sehr oberflächlich nachkommt.
Departement für Nutztierwissenschaften am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL)
- Haltungsformen: Stallbauliche Massnahmen, (z.B. für behornte Kühe) Herdenstrukturen, Mutter- und ammengebunden Rinderaufzucht
- Züchtung: Angemessene Rassen (z.B. Bio-spezifische Züchtung beim Milchrind)
- Tierernährung: Alternative Eiweissquellen und Eiweissfuttermittel nachhaltiger gestalten, Knospe-kompatible Ernährung, Raufutter
- Tiergesundheit: Präventives Herdenmanagement, Reduktion von Antibiotika, Jungtiere, Parasitologie
- Aquakultur
Wo kann man den Hebel ansetzen, um Tiere und auch tierische Produkte mehr wertzuschätzen?
Wir müssen in der Gesellschaft stärker über nachhaltiges Einkaufen und Konsum sprechen. Es reicht meiner Meinung nach nicht, alles «Bio» zu kaufen, auch das gesunde Mass ist ausschlaggebend. Die Bereitschaft, höhere und auch ethischere Qualität mit höheren Preisen zu belohnen, kann helfen mehr Wertschätzung dem Produkt, dem Produzenten und nicht zuletzt dem Tier gegenüber zu zeigen. Die Wertschätzung, die ich einem Ei oder einem Stück Fleisch entgegenbringe, steht für den Respekt, den ich dem Landwirt und dem Tier gebe. Das wäre der faire Deal der Kundinnen und Kunden gegenüber dem Markt, des Marktes gegenüber den Bauern und der Bauern gegenüber ihren Tieren: mehr zu geben im Tausch für dieses ungemein wertvolle Produkt: Milch, Fleisch oder Ei. Aber dabei müssten alle mitspielen.
Was ist Ihr Wunsch für die Zukunft?
Ich wünsche mir eine wesentlich offenere Kommunikation, wenn es um die Themen Tierwohl und Nachhaltigkeit geht, denn beide Aspekte sind wichtig. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft den Wert der Produkte erkennt. Und dass alle Player am Markt einbezogen werden.
Eine Idealvorstellung: KonsumentInnen, Landwirte, Handel, Politik und ForscherInnen, die die Kompetenz haben, etwas über das Tierwohl zu sagen, kommen zusammen und handeln den Umgang mit landwirtschaftlichen Haustieren neu aus.
Zur Person
Dr. Florian Leiber leitet seit Januar 2016 das Departement Nutztierwissenschaften am FiBL und ist Mitglied der Geschäftsleitung. Zuvor war er Oberassistent in der Gruppe Tierernährung, ETH Zürich und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sektion für Landwirtschaft am Goetheanum in Dornach. Florian Leiber studierte Agrarwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und promovierte 2004 in der Gruppe Tierernährung, ETH Zürich.
Weitere Informationen zum Thema:
Wem gehören die Tiere? SRF Sternstunde Philosophie
Richard David Precht diskutiert in der SRF Sternstunde Philosophie mit Yves Bossard über Tiere und Fleischkonsum.