Meine Frau und ich leben im Paradies: Unsere grosse Liebe, drei gesunde Kinder, ein schöner Biohof, etwas Ackerbau und Obst, Mutterkühe, Freilandschweine – und vor allem viele Kundinnen und Kunden, die uns und unsere Produkte schätzen.
Trotzdem konnte ich kürzlich vor lauter Zweifel kaum schlafen. Im Dezember liefern wir jeweils Frischfleisch vom Freilandschwein und vom Grauviehrind aus. Unsere Mischpakete enthalten Stücke vom ganzen Tier, vom Filet bis zum Ochsenschwanz. Aber eben, auch wir können kein Fleisch verkaufen, ohne ein Tier zu töten. Und vor der Schlachthoffahrt kreisen meine nächtliche Gedanken um die Frage, ob wir als Menschen dazu berechtigt sind.
Aus ökologischer Sicht ist unser Bio-Rindfleisch ganz gut. Die Rinder fressen Raufutter und kein Getreide. Unser Gras wächst zum grössten Teil dort, wo sich kein Ackerbau betreiben lässt: auf Ackerflächen, die eine Pause brauchen, auf steilen, artenreichen Wiesen und auf der Alp. Aus ernährungsphysiologischer Sicht versorgt uns ein bescheidener Fleischkonsum mit lebenswichtigen Stoffen wie Vitamin B12 und Eisen. Diese sind in einer rein pflanzliche Ernährung gar nicht enthalten oder schlecht verfügbar. Trotzdem: Während eines Jahres wächst uns so ein Jungrind ans Herz und umgekehrt wohl auch. Mit dem Resultat, dass es mir vertrauensvoll in den Viehanhänger und von dort ins Schlachthaus nachtrottet. Der einzige Trost: die Tiere haben kaum Stress bis zum finalen Schuss. Ich kann alle verstehen, die aus ethischer Sicht Vegetarier werden. Insgesamt liefern mir meine Gedanken keine entscheidende Antwort. Ich werde auch das nächste Mal vor der Schlachthoffahrt schlecht schlafen.
Sich vertieft mit dem Lebensmittel Fleisch auseinanderzusetzen schliesst den Genuss nicht aus. Im Gegenteil, das wertet ihn auf. Meine Frau Ursina und ich teilen unsere Erfahrungen und Gedanken gerne auch mit den Kunden. Ich freue mich jetzt schon auf die vielen guten Gespräche auf der Liefertour. Ich erzähle manchmal, was das Tier für einen Charakter hatte, wo es überall war. Wir finden es wertvoll zu wissen, dass unseren Lebensmitteln mit Respekt begegnet wird. Es liegt nicht einfach ein Stück Fleisch auf dem Teller, sondern dahinter steckt viel körperliche und gedankliche Arbeit und schliesslich musste ein Tier sein Leben lassen. Und es ist schön zu denken, dass unsere Kunden durch ihre Gedanken und durch die Arbeit der Zubereitung diesem Prozess einen ebenbürtigen Abschluss geben.
Als Direktvermarkter habe ich ein unglaubliches Glück. Was unsere Kunden bestellen, tragen wir ihnen gerne auch in Ihre Kühltruhe in den Keller runter. Ein kurzer Austausch gehört dazu – und er muss nicht immer höchst philosophisch sein. Dafür nehme ich mir Zeit. Im Gegenzug erlebe ich eine unglaubliche Wertschätzung. Unsere Kunden bedanken sich, dass sie bei uns einkaufen können. Manchmal erhalte ich als Anerkennung eine Flasche Wein geschenkt oder werde auf einen Kaffee gebeten.
Ich verstehe alle meine Berufskollegen, die zurzeit in Europa zu tausenden auf die Strasse gehen, um mehr Respekt einzufordern. Sie liefern in den anonymen Handel und ein grosser Teil der Konsumierenden geht anonym einkaufen. Beide Seiten lesen und hören dann in den Medien, an was sie allem schuld sein sollen. Da fehlt die Wertschätzung gänzlich, auf beiden Seiten. Dabei wächst sie einfacher als das Gras auf unseren Biowiesen: Sie entsteht dann, wenn Menschen zusammen in eine echte Beziehung treten. Sie nimmt nicht ab, wenn man davon zehrt und sie vermehrt sich, wenn man sie weitergibt.
Zum Autor: Stephan Jaun lebt mit seiner Frau Ursina Steiner in Wattenwil im Berner Oberland. Die beiden sind Biobauern, Gastrounternehmer und Autoren. www.joli-mont.ch